Rodney

Heute will ich euch die Geschichte von Rodney erzählen, so wie sie hätte sein können. Wir trafen ihn an der Schleuse von Lalande, wenige Kilometer vor Carcassonne dort, wo ein Wegweiser die Richtungen nach Katmandu, St. Franzisco, London, Sydney und dutzende weitere Orte auf der ganzen Welt anzeigt. Ein guter Wegweiser, hier am Kanal, genau in der Mitte zwischen Mittelmeer und Atlantik. An dieser Stelle trafen wir Rodney auf seinem kleinen Segler. Er war auf dem Weg nach Hause.

Rodney war vielleicht sechzig oder siebzig Jahre alt. Nicht, dass er ein Geheimnis aus seinem Alter machte. Es zählte einfach nicht. Seine schneeweisen Haare hingen ihm bis zum Gürtel. Immer wenn sie über den Hosenbund reichten, schnitt er sie wieder ein Stück ab. Er schenkte uns ein lückenhaftes Lächeln. Zahnlücken, die von einem gelebten Leben erzählten. Von zerknirschten Nächten, durchgekauten Träumen, verbissenen Kämpfen.

Als er sein Segelboot zum ersten Mal zu Wasser ließ, da war er Zwanzig. „Grazy Twenty“, grinst er und schwieg. So saßen wir eine ganze Weile. Die Mittagssonne ließ die Schatten kürzer werden, die Hitze brannte auf meinen Armen.

„Sie starb im Oktober“ Seine Stimme kam kaum gegen das Schaben der Zikaden an. Ich hörte sie just in dem Augenblick, als ich nicht mehr damit rechnete, dass er überhaupt noch etwas sagen würde. „Sie wollte immer nach Australien. Kängurus sehen, obwohl ich ihr sagte, dass in Australien kein Mensch Kängurus sehen möchte. Aber sie wollte es. Nur noch diese eine Saison, hat sie gesagt. Dann ist es genug. Genug Touristen, genug Boote, genug Sonnentage. So war es dann ja auch. Es war ihre letzte Saison.“

Er schwieg erneut. Ich stand auf, ging zu unserem Boot, machte einen Kaffee, kramte ein paar Kekse heraus, drückte Karls Hand und setzte mich noch einmal neben Rodney auf die Bank. Seine Hände waren älter als sein Gesicht. Die Haut dunkelbraunes Pergament mit bläulichen Altersflecken, Lederbändchen am Armgelenk, ein schmaler Goldreif über dem kleinen Finger. War es ihrer?  Er deutete meinen Blick, schüttelte den Kopf. Ich wartete.  

„Es ist so eine Sache mit dem Alleinsein. Es schleicht sich ein, in deinen Körper bis in die Knochen. Irgendwann merkst du es gar nicht mehr. Ich atmete, aß, schlief und schiss, ohne dass auch nur eine Menschenseele näher als Zehn Meter an mich herankam.“ Seine Stimme klang fester nach dem Kaffee. Nicht mehr so rau, nicht mehr so ungeübt. Wie hatte er diese Reise finanziert? Ich wagte mich nicht zu fragen, wagte nicht, sein Innehalten zu stören. Der Tag hatte seinen Zenit überschritten. Ich beobachtete Karl, wie er im Motorraum arbeitete. Rodney drehte sich seine zweite Zigarette des Tages. Dann fuhr er fort:

 

„Das Einzige, was mir von meinen Eltern geblieben war, war ihre Farm. Ich erbte sie mit 18. Sie brachte mir so viel Geld ein, dass ich mein ganzes Leben nicht mehr arbeiten musste. Und genau das hatte ich auch vor, niemals arbeiten. Doch nach 15 Jahren auf See machte auch das keine Freude mehr. Ich war kreuz und quer über den Pazifik geschippert. Ich kannte jede Insel, jeden Hafen. Sogar die Huren kannte ich, obwohl ich ihre Dienste selten in Anspruch nahm.

Im November 1982, kurz vor der Regenzeit, traf ich auf Moorea ein. Ich mochte die Insel mehr als viele andere in der Region, auch wenn diese gemeinhin als schöner galten. Ich vertäute mein Schiff, öffnete eine Flasche Rum und goss mir einen hinter die Binde.  

Sie fand mich am nächsten Morgen, kurz bevor die Sonne aufging. Ich saß mit dem Rücken zur Kaimauer, blickte übers Meer. Ich weiß nicht, ob du diesen alten „Otis-Redding-Song“ kennst.  Ich jedenfalls habe ihn an diesem Morgen vor mich hingesungen, immer und immer wieder. „Sitting on the doc of the Bays – waisting Time.” (Ich sitze an den Dogs in der Bucht und vergeude meine Zeit). „Wenn du nicht weißt, was du mit deiner Zeit anfangen sollst, dann komm mit. Ich zeig dir schon, was zu tun ist“. Ihre Stimme drang unangenehm durch meinen Nebel. Ich versuchte sie wie eine Fliege zu verscheuchen. Es gelang mir nicht. Also ließ ich die Augen geschlossen, summte weiter, und hoffte sie würde sich endlich verziehen.  Stattdessen traf mich ein schwall kaltes Wasser mitten ins Gesicht. Mit einem Schlag war ich wach.

„Was sitzt du hier müßig herum. Die Sonne ist aufgegangen. Was wirst du jetzt tun?“ Ich blickte in das Gesicht einer Frau. Sie war nicht schön, sie war noch nicht einmal jung. Sie hatte zwei Eimer bei sich. Einer war jetzt leer. Sein vorheriger Inhalt tropfte mir noch immer von den Haaren. In dem anderen lagen Bananen und Kokosnüsse. „Los komm, hilf mir, die Kinder werden hungrig sein und ich muss mich beeilen, damit sie alle pünktlich zu Schule kommen.“  Ohne meine Antwort abzuwarten stellte sie den vollen Eimer vor mich und ging los. Unterwegs hielt sie immer wieder an, um Kokosnüsse einzusammeln und an einer Bananenstaude pflückte sie die reifen Früchte. Ich folgte ihr, trat mit ihr über die Straße und ging schließlich auf den flachen Bungalow zu, der ganz offensichtlich ihre Behausung darstellte. Ich hatte mit einer Strohhütte gerechnet. Stattdessen lebte sie in einem dieser gesichtslosen Zweckbauten, wie sie überall auf der Welt von wohlmeinenden Gemeinderäten für sozial Benachteiligte errichtet werden.

Im Innern war es ruhig und friedlich, für einen Augenblick. Louisa, so war ihr Name, drückte mir eine Machete in die Hand und forderte mich wortlos auf, die Kokosnüsse vorzubereiten. Dann schlug sie mit einem kleinen Hammer gegen einen großen Eisenring, der an einer Schnur unter der Decke hing. Ein ohrenbetäubendes Scheppern erfüllt den Raum. Wenige Minuten später waren wir umringt von neun Kindern. Der jüngste gerade einmal vier, die älteste, eine Schönheit von 17 Jahren.“

Die Schatten waren länger geworden, doch es war noch immer heiß. Karl hatte seine Arbeit beendet. Jetzt stand er zufrieden unter unserer Heckdusche. Rodney schloss die Augen, er ruhte und ich fing an zu kochen.  

Vom Markt hatte ich wunderschöne weiße und rosafarbene Auberginen mitgebracht. Ich schnitt sie in Scheiben, salzte sie, stellte sie zur Seite. Während sie Wasser zogen, schälte ich ein paar Tomaten, zerteilte Knoblauch und eine grüne Peperoni und machte eine Tomatensauce. Ich briet die Auberginenscheiben in Olivenöl, goss die Tomatensauce darüber und servierte das Ganze mit Schafkäse, und frischem Baguette. Zum Trinken hatten wir Rotwein und Wasser, ein köstliches Mahl zudem Rod in wortloser Selbstverständlichkeit hinzukam.

„Wie ihr euch schon denken konntet, bin ich geblieben.“ Erklärte er, während er genüsslich die letzten Tropfen Tomatensauce mit dem Brot aufsaugte. „Es war keine Frage und zumindest am Anfang, war es auch keine Liebe. Louisa hatte da diese neun Kinder, von denen wahrscheinlich noch nicht einmal mehr sie selbst wusste, welche sie geboren hatte, und welche von anderen Müttern stammten. Die Väter spielten keine Rolle. Es gab sie nicht. Punkt. Ich war auch kein Vaterersatz. Ich war einfach nur da. Nach einigen Wochen saßen wir am Abend zusammen, als sie meine Hand ergriff. Sie führte mich in ihr Schlafzimmer und fortan schliefen wir miteinander. Sie war mindestens 15 Jahre älter als ich. Doch nicht sie wurde krank.“

Karl stand auf und kramte nach einer weiteren Box Rotwein. Langsam sank die Sonne hinter den Kanal. Es wurde kühler. Als unsere Gläser wieder gefüllt waren, erzählte Rodney weiter.

„Es begann mit einer großen Müdigkeit, dann setzten die Schmerzen ein. Ich war nie ernsthaft krank gewesen, dachte irgendwie, das sei etwas für andere. Etwa ein halbes Jahr nachdem ich bei Louisa aufgetaucht war, kam ich in das Krankenhaus von Papeete. Krebs, die Chancen fifty-fifty. Louisa kümmerte sich um mich. Sie sprach mit den Ärzten, wurde zur Furie, wenn sie glaubte, ich bekäme nicht alles, was mir zusteht, hielt meinen Kopf, wenn die Übelkeit mich überrollte. Damals war die Chemotherapie noch eine einzige Tortour. Doch mit Louisas Hilfe überstand ich sie gleich zweimal.

Sie war es auch, die mich vor dem sicheren Ruin rettete. Sie half mir eine Krankenversicherung zu bekommen, sodass ich nach etwa der Hälfte der Behandlung die Kosten nicht mehr selbst übernehmen musste. Es blieb also noch einiges von meinem Vermögen übrig und das war auch der Grund, warum wir heirateten. Ich wollte, dass Louise meine Witwe wird, dass das Geld für sie und die Kinder da sein würde.  Aber es kam anders.“

Es war spät geworden. Karl hatte den Kampf gegen den Schlaf längst aufgegeben. Rod drehte sich eine Zigarette, krümelte ein wenig Hasch in den Tabak, nahm einen tiefen Zug und schwieg. „Aber du wurdest wieder gesund“, versuchte ich ihn erneut zum Reden zu bewegen. Er zog an seiner Kippe und ging zu seinem Segelboot. Die Erzählung war zumindest für heute vorbei.

Ich saß noch eine ganze Weile an Deck und dachte über seine Worte nach. Wie ist er von Moorea nach Frankreich gekommen? Hier an diesen Kanal? Der Weg ist klar. Er kam über den Pazifik, New Seeland, Südspitze Australien, indischer Ozean und dann durch den Suezkanal ins Mittelmeer und bei Séte auf den Kanal. Aber was hat ihn hierher verschlagen? Wer war die Frau, die Oktober gestorben ist?  Voller Fragen und Bilder legte ich mich schlafen.

Am nächsten Morgen weckte mich Karl mit frischem Kaffee und Croissants – von denen ich beim besten Willen nicht wusste, wo sie herkamen. Es schien, als hätten die beiden Männer schon ein paar Stunden miteinander verbracht. Jetzt versammelten wir uns um den frisch gedeckten Frühstückstisch und ich nickte Rod erwartungsvoll zu. „Lass mich wissen, wie es weitergegangen ist“, bat ich ihn. Er grinste.

„Wie soll es schon weitergegangen sein? Das Leben geschah. Ich wurde gesund, die Kinder größer. Die Älteste, Christine, ging nach Frankreich. Sie studierte irgendetwas mit Literatur. Wenig später verlies uns auch Gerome. Sein Weg führte ihn in meine alte Heimat. Nach Sydney, wo er in einem der glitzernden Bankgebäude sein Leben damit zubringt, Geld zu verdienen.

Louisas musste nicht lange leiden. Pankreaskrebs, eine Sache von wenigen Monaten. Sie starb umringt von allen ihren Kindern, denn sowohl Gerome als auch Christine schafften es rechtzeitig nach Hause. Sie blieben bis zur Beerdigung, dann gingen Sie wieder ihre Wege. Auch die anderen verließen mich. Sie beendeten ihre Schule, machten eine Ausbildung, studierten, heirateten, verschwanden. Unser Jüngster, Patrick, wollte immer „Meeresbiologe“ werden. Irgendwo hatte er das Wort aufgeschnappt und es jedem entgegengeschleudert, der ihm über den roten Lockenkopf strich. Patrick war ein liebes aber kein kluges Kind. Nur mit Müh und Not beendete er seine Hauptschulzeit. Doch auch für ihn sollte es sich gut fügen. In Moorea eröffnete zu dieser Zeit die Meeresschildkrötenklinik und genau hier fand Patrick seine Berufung. Seither tut er das, von dem er glaubte, dass es die Arbeit eines Meeresbiologen wäre.

Dreizehn Jahre, nachdem ich auf Moorea festgemacht hatte, löste ich die Leinen erneut und ließ mich auf den Stillen Ozean hinaustreiben. Die Einsamkeit erwartete mich wie ein alter Freund und in den ersten Monaten verstanden wir uns wunderbar.  All das, was ich vormals am Alleinsein genossen hatte, erfüllte mich auch jetzt mit Freude. Ich hing meinen Gedanken nach, versank in Tagträumen. Ich hörte Louisas Stimme gegen den Wind und lauschte dem Lachen der Kinder in den Wellen. Die Monate vergingen, ebenso, wie meine ersten Jahre auf See doch dann, ganz allmählich veränderte sich etwas. Ihre Stimmen verblassten und ich vermisste sie. Louisa, die Kinder, selbst unsere Nachbarn, ja selbst den hässlichen Hund von Gegenüber. Ich spürte einen Schmerz, den ich nicht kannte. Was hättet ihr getan an meiner Stelle?“ Herausfordernd blickte er zu mir, dann zu Karl. Ich beschloss zu schweigen. Das hier war Karls Frage, wenn einer in der Lage war, darauf eine Antwort zu geben, dann er.

„Ich wäre zurückgefahren“, überlegte Karl und seine Antwort klang wie eine Frage. Kaum ausgesprochen schüttelte er den Kopf. Rod nickte. „Das habe ich auch versucht. Ich bin zurückgefahren. Bin zu Patrick gezogen, der mit seiner schwangeren Freundin Juliette und fünf Schildkröten noch immer in dem kleinen Bungalow lebte. Ich bezog die Kammer der beiden Jungs. Das größere Zimmer der Mädchen war Juliettes Arbeitszimmer. Hier bot sie ihre Physiotherapie an, gab Tanzstunden und Yogaunterricht. Die beiden hatten sich in ihrem Leben eingerichtet und ich störte. Wenige Wochen später setzte ich erneut die Segel.

In den ersten Monaten schipperte ich von Hafen zu Hafen. Ich versuchte ein Mädchen zu finden, eine Frau mit Familie, irgendjemandem mit dem ich dort anknüpfen konnte, wo ich, so empfand ich es, aufgehört hatte zu leben. Es funktionierte nicht. Ganz im Gegenteil. Von nicht wenigen Inseln bin ich im führen Morgengrauen geflohen. Vor wütenden Ehemännern, keifenden Weibern, schreienden Kindern. Der Pazifik wurde mir zu klein und meine Einsamkeit immer größer.

Es gab kein besonderes Erlebnis. Es gab kein Sturm, den ich nur knapp überlebte, kein weiser Haitianer noch nicht einmal ein Höllentrip, der mich auf den Weg zurückgeschleudert hätte. Ja, ich hatte ein paar atemberaubende Stürme, ich hatte vor allem aber auch fürchterliche Flauten, die mich tagelang unter sengender Sonne dahindümpeln ließen. Auf Samoa traf ich auch diesen fetten Barkeeper, der sich selbst wahrscheinlich für eine Mischung aus Buddha und Konfuzius gehalten hatte und der mich mit Lebensweisheiten überfütterte und den Höllentrip gab es auch. Aber nichts davon half mir gegen meine Einsamkeit.

Sie blieb mir treu, verkürzte meine Nächte und nagte an meiner Seele. In dieser Stimmung beschloss ich nach Frankreich zu segeln. Keine Ahnung warum. Vielleicht um Christine zu treffen, vielleicht wegen dem Wein, vielleicht auch einfach nur so. Zwei Jahre später bog ich bei Séte in den Kanal ein. Ich hatte aufgehört gegen meine Einsamkeit zu kämpfen. Ich habe sie aber nie wieder verherrlicht. Sie ist einfach da, sie ist ein Teil von mir. So wie von jedem von uns.“

Streng sah mir ins Gesicht. Ich wusste, dass er Recht hat und ich fürchtete mich nicht. Ich nickte nur. „Gut“, erklärte er. „Wenn ihr das verstanden habt, dann könnt ihr euch aneinander freuen. So wie wir uns aneinander gefreut haben. Susanne und ich. Ich traf sie an der Schleuse von Capestan, hier wollte ich den Winter verbringen. Ich hatte meine Leinen nicht gut gehandhabt und mich mit dem Schiff aufgehängt. Ich fand mein Messer nicht schnell genug, hing immer schiefer und eines nach dem anderen ging von Bord. Zuerst mein Kaffeebereiter, meine Tasse, mein Kompass, schließlich ein Kanister mit Wein. Sie stoppte den Schleusenvorgang, ich kappte die Leine und versuchte das ein oder andere wieder zu bekommen, was mir natürlich kaum gelang. So haben wir uns kennengelernt und aus dem einen Winter wurden fünf. Ich habe sie sehr geliebt und ich weiß, dass auch sie mich geliebt hat.“

„Und?“ Ich mustere sein Gesicht, die ledergegerbte Haut, die tiefen Falten um die Augen, die grauen Bartstoppeln er wirkte zufrieden, ja sogar glücklich.

„Und jetzt fahre ich zurück nach Hause.“

Mit diesen Worten stieg er in sein kleines Boot, lies den Motor an und schipperte weiter in Richtung Atlantik.